In einem Gastbeitrag für das Handelsblatt fordert Allianz-Chef Oliver Bäte eine Stärkung der Produktivität der deutschen Wirtschaft. Er schlägt vor, Anreize im Steuer- und Sozialsystem zu schaffen, um es attraktiver zu machen, mehr zu arbeiten. Die Vollzeiterwerbstätigkeit sollte durch den Ausbau der ganztägigen Gesundheitsversorgung unterstützt werden. Bäte plädiert zudem für eine bessere Prävention und die richtigen Anreizsysteme, um die hohe Zahl der Krankentage zu senken.

Wenn wir über den Fachkräftemangel als Wachstumsbremse sprechen, verfehlen wir die eigentliche Problematik. Genau genommen hat Deutschland keinen Mangel an Fachkräften. Vielmehr fehlt es uns an Fachkräften, die genügend Stunden arbeiten können und vor allem motiviert sind, mehr zu arbeiten. Es ist jetzt dringend erforderlich, das Bewusstsein dafür wiederherzustellen, dass unser Wohlstand auch mit dem Willen zu tun hat, diesen durch Arbeit zu erhalten.

Laut OECD-Daten waren im Jahr 2023 in Deutschland 46 Millionen Menschen erwerbstätig. Diese leisteten jedoch nur so viele Arbeitsstunden wie 1991, als noch 39 Millionen Menschen beschäftigt waren. Der Hauptgrund dafür ist der gestiegene Anteil an Teilzeitbeschäftigten. In diesem Umfeld ist es nahezu realitätsfern, dass manche Gewerkschaften sich profilieren wollen, indem sie eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich fordern.

Hinzu kommt der chronisch hohe Krankenstand. Laut der Techniker Krankenkasse nahmen deutsche Arbeitnehmer im Jahr 2023 im Durchschnitt 19,4 Krankheitstage in Anspruch. Dies ist ein weiterer Anstieg um 0,4 Tage im Vergleich zum Vorjahr und das Doppelte der Zahl von 2008. Der Krankenstand in Deutschland liegt damit deutlich über dem Niveau von Ländern wie den USA, Kanada und der Schweiz. Schweizer Arbeitnehmer nehmen im Durchschnitt nur 7,6 Krankheitstage pro Jahr, und der Trend ist rückläufig: Im Vorjahr waren es noch 9,2 Tage. Ohne die enorm hohe Zahl der Krankentage wäre die deutsche Wirtschaft im letzten Jahr nicht um 0,3 Prozent geschrumpft, sondern um fast 0,5 Prozent gewachsen. Ohne Fachkräftemangel könnten deutsche Unternehmen bei voller Auslastung 49 Milliarden Euro mehr erwirtschaften. Im Jahr 2027, wenn die Babyboomer in Rente gehen, dürfte das Defizit auf über 70 Milliarden Euro steigen – ein verheerender Verlust für unsere Wirtschaft.

Die Zeit ist gekommen, dass wir als Gesellschaft entscheiden: Sind wir bereit, zumindest genauso viel und genauso produktiv für unseren Wohlstand zu arbeiten, wie es in anderen Industrieländern üblich ist? Das bedeutet nicht nur, die Teilzeitarbeit anzugehen, sondern auch mehr in Vollzeit zu arbeiten. In Schweden und der Schweiz beispielsweise – zwei Länder, die nicht als „ausbeuterisch“ gelten – arbeitet der durchschnittliche Vollzeitbeschäftigte 300 Stunden mehr im Jahr als in Deutschland. Wie lässt sich dies erreichen? Vor allem durch die richtigen Anreize. Mehr zu arbeiten muss in Deutschland – auf allen Ebenen – leichter und lohnender werden.

Der wichtigste Hebel sind die weiblichen Fachkräfte, die überproportional häufig in Teilzeit arbeiten. Und oft nicht freiwillig, sondern weil wir als Gesellschaft es versäumen, zuverlässige und bezahlbare ganztägige Kinderbetreuung bereitzustellen.

Der zweite Hebel sind die rund 630.000 jungen Menschen, die bis 2024 ihren Weg nicht eigenständig in den Arbeitsmarkt finden werden. Gleichzeitig bleiben fast 70.000 Ausbildungsplätze unbesetzt, und mehr als ein Viertel der Auszubildenden bricht vorzeitig ab. Die Ursachen dafür sind vielfältig, aber wir müssen dieses Potenzial nutzen! Aus diesem Grund beteiligt sich die Allianz beispielsweise an der gemeinnützigen Initiative „Joblinge“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, bis 2030 rund 100.000 junge Menschen über Praktika in die Arbeitswelt einzuführen – auch in unserem Unternehmen.

Drittens machen wir es qualifizierten Zuwanderern nach wie vor zu schwer, ihren Weg nach Deutschland zu finden. Wir müssen Deutschland für Talente aus dem Ausland attraktiv machen. Das bedeutet auch, dass wir die notwendigen Verwaltungsprozesse konsequent aus der Perspektive des „Kunden“ durchdenken, sie vereinfachen und durchgehend digitalisieren